
Levatoravulsion – Das stille Geburtstrauma

Geburten sind ein intensives, körperlich wie emotional forderndes Ereignis. Neben den bekannten Verletzungen wie Dammrissen oder Geburtsverletzungen am Muttermund kann es dabei auch zu weniger bekannten, aber folgenschweren Schäden im Beckenbodenbereich kommen – beispielsweise einer Levatoravulsion. In diesem Beitrag erläutere ich dir, was genau eine Levatoravulsion ist, wie sie entsteht, welche Symptome sie verursacht und welche Behandlungsoptionen betroffenen Frauen zur Verfügung stehen.
Was ist eine Levatoravulsion?
Der Begriff „Levatoravulsion“ beschreibt das Abreißen (Avulsion) eines Anteils des Musculus levator ani, einem zentralen Muskel des Beckenbodens. Der Levator ani ist verantwortlich für die Stabilisierung des Beckenbodens und unterstützt wichtige Funktionen wie Kontinenz, Defäkation, Stabilisation der Beckenorgane
Bei einer Levatoravulsion löst sich dieser Muskel (meist einseitig oder beidseitig) von seinem knöchernen Ansatz am Schambein (Os pubis) ab. Dies kann die Funktion des Beckenbodens dauerhaft beeinträchtigen – oft ohne dass es direkt nach der Geburt erkannt wird.
Warum entstehen Verletzungen des Levator ani unter der Geburt?
1. Überdehnung bei der Passage des kindlichen Kopfes
Der Levator ani muss sich bei der Geburt sehr stark dehnen, um dem Kopf des Kindes Platz zu machen. Bei einer übermäßigen oder zu schnellen Dehnung kann es zu einem Abriss des Muskels von seinem Ursprung am Schambein kommen.
2. Fehlender Schutzreflex durch Nervenüberlastung
Während der Geburt werden auch die Nerven, insbesondere der Nervus pudendus, stark beansprucht. Eine vorübergehende oder dauerhafte Schädigung dieser Nerven kann dazu führen, dass der Muskel nicht mehr richtig kontrahiert oder schützt, was das Risiko eines Risses erhöht.
3. Weitere Risikofaktoren während der Geburt
- Großes Kind: übt mehr Druck auf den Beckenboden bei der Passage aus
- Lange Austreibungsphase: die Muskulatur ermüdet und überdehnt
- Schnelle Geburt („Sturzgeburt“) oder sehr kurze Austreibungsphase: keine Zeit zur Dehnung und Lösung der Muskulatur
- Instrumentengeburt (Zange, Saugglocke): zusätzlicher Zug an kindlichem Kopf verursacht eine stärkere Belastung auf den Beckenboden
- Steißlage oder hintere Hinterhauptslage: ergibt einen ungünstigen Passagewinkel durch das Becken
- Erstgebärende Frauen: festeres, weniger nachgiebiges Bindegewebe und Muskelgewebe
- Alter bei der Geburt: Höheres Risiko ab 35 Jahren
- Hoher BMI der Mutter
- Hoher Beckenbodendruck – zu starkes Pressen ohne ausreichende Entspannung
- Kristeller Handgriff
Symptome: Woran du merken kannst, dass du eine Levatoravulsion hast
Eine Levatoravulsion bleibt direkt nach der Geburt oft unentdeckt, da sie nicht unbedingt mit akuten Schmerzen verbunden ist. Häufig zeigen sich die Symptome leider erst Wochen bis Monate später:
- Gefühl der „Schwere“ im Becken oder „Fremdkörpergefühl“ in der Scheide
- Senkungsbeschwerden (z. B. Blasen- oder Gebärmuttersenkung)
- Harninkontinenz (meistens Belastungsinkontinenz)
- Stuhlinkontinenz oder Entleerungsstörungen
- Schmerzen beim Geschlechtsverkehr
- Weite schlaffe Vagina, vermindertes Gefühl beim Geschlechtsverkehr
- Verzögerte Rückbildung oder ausbleibende Kräftigung des Beckenbodens trotz Training
Die Diagnose erfolgt in der Regel durch eine Tastuntersuchung (Palpation des Beckenbodens) und bildgebende Verfahren wie 3D-Sonografie oder MRT.
Behandlungsmöglichkeiten: Was du tun kannst.
In wissenschaftlichen Studien wurde eine Levatoravulsion bei 20–36 % der Frauen nach einer vaginalen Geburt festgestellt.
Problematisch hierbei ist: ein vollständig abgerissener Muskel kann nicht wieder anwachsen. Das fehlende Muskelgewebe wird dann durch Narbengewebe ersetzt, welches jedoch grundsätzlich andere Aufgaben erfüllt und dementsprechend zwar die Lücke füllt, den Muskel und seine Funktion aber nicht ersetzt.
1. Konservative Behandlung
- Beckenbodentraining unter physiotherapeutischer Anleitung
Hierbei ist es wichtig, nicht „irgendwie“ zu trainieren, sondern Übungen, Intensität und Dauer an die Verletzung anzupassen. Studien konnten aufzeigen, dass gezieltes Training bei einer Levatoravulsion hilfreich ist. - Biofeedback und Elektrostimulation
- Pessar-Therapie (bei beginnenden Senkungssymptomen)
- Beckenbodenfreundliches Alltagsverhalten
- Training der synergistischen Muskulatur zur Unterstützung
2. Operative Therapie
In schweren Fällen, insbesondere bei begleitender Organsenkung oder bei therapieresistenter Inkontinenz, kann ein operativer Eingriff erwogen werden:
- Levatorplastik
- Rekonstruktive Beckenbodenchirurgie
- Netze oder Implantate
3. Psychologische Begleitung
Da die psychologische Begleitung von Frauen während und nach der Schwangerschaft auch ein Herzensthema von mir ist, möchte ich in diesem Beitrag nochmals gezielter darauf eingehen. Eine Levatoravulsion betrifft nicht nur den Körper, sondern auch die seelische Gesundheit. Viele betroffene Frauen erleben ein Gefühl des Kontrollverlusts, der Entfremdung vom eigenen Körper oder der Hilflosigkeit. Wenn die Geburt – ein eigentlich freudiges Ereignis – mit Inkontinenz, Organsenkungen, Unsicherheit oder einem verminderten Sexualleben verbunden ist, kann das langfristige Auswirkungen auf das Selbstbild, die Beziehung und die Lebensqualität haben.
Warum ist psychologische Beratung bei einer Geburtsverletzung wichtig?
- Unwissen und Tabuisierung führen dazu, dass Frauen sich mit ihren Beschwerden allein fühlen oder denken, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung.
- Körperliche Einschränkungen (z. B. Inkontinenz, Schmerzen beim Sex, Instabilitätsgefühl) können die Identität als Frau und Mutter infrage stellen.
- Viele Frauen erleben eine Geburt als traumatisch, vor allem wenn sie nicht ausreichend aufgeklärt oder begleitet wurden.
- Gefühle wie Wut und Scham über den eigenen Körper, aber auch Schuldgefühle und Zukunftsängste sind häufig – und absolut menschlich.
Eine empathische, ressourcenorientierte Beratung kann helfen, diese Themen aufzufangen und neue Ressouren zu eröffnen.
Mentaltraining & Körperarbeit: Zurück zur inneren Verbindung
Eine wichtige Brücke zwischen Körper und Psyche ist das gezielte Mentaltraining, das besonders wirksam in Kombination mit körpertherapeutischen Ansätzen ist.
Methoden:
- Körperreisen / Bodyscan: Wieder in Kontakt mit dem eigenen Körper kommen, ohne Angst oder Abwertung.
- Imagination & Visualisierung: Innere Bilder von Heilung, Stabilität und Selbstakzeptanz aufbauen.
- Atemarbeit & Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelentspannung, Atemachtsamkeit)
- Positive Suggestionen („Mein Körper kann das“, „Ich darf mich annehmen, wie ich bin“)
- Ankertechniken: Emotionale Zustände gezielt aktivieren.
Diese Techniken helfen, emotionale Verspannungen zu lösen, Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen und innere Stärke zu mobilisieren – auch wenn die äußere Situation nicht sofort veränderbar ist.
Was betroffene Frauen brauchen
- Zeit und Raum, um über das Erlebte zu sprechen
- Bestätigung und ernst nehmen ihrer Beschwerden – auch wenn „von außen nichts zu sehen ist“
- Raum um auch über intime Themen sprechen zu können
- Female Empowerment, statt reiner Muskelreparatur
Fazit: Frühzeitige Diagnose ist entscheidend
Die Levatoravulsion ist eine häufig unterschätzte, aber ernstzunehmende Geburtsverletzung. Dank moderner Diagnostik und therapeutischer Optionen kann vielen Frauen geholfen werden – vorausgesetzt, die Schädigung wird erkannt. Eine gezielte Nachsorge nach vaginaler Geburt, insbesondere bei Risikogeburten, ist daher absolut wichtig.
Frauen sollten Beschwerden wie Beckenbodenschwäche, Inkontinenz oder Schmerzen nicht bagatellisieren – sondern frühzeitig fachkundige Hilfe suchen. Denn je eher eine Behandlung beginnt, desto besser sind die Chancen auf eine gute Lebensqualität nach der Geburt.
Falls du unsicher bist, ob deine Beschwerden nach der Geburt „normal“ sind – sprich mit einem spezialisierten Beckenboden-Zentrum. Es ist dein Körper, deine Gesundheit – du darfst Unterstützung und Klarheit einfordern.

Hallo, welche Möglichkeiten habe ich 25 Jahre nach Geburt, bei erst jetzt diagnostiziertem Levatorabriss und Dammriss Grad III. Bin seit 1 Jahr zunehmend inkontinent bei Organsenkungen aller Kompartmente 2-3 und Schließmuskeldefekt. Soll man erst den Levator reparieren und den Schließmuskel oder zuerst die Senkungen und die Inontinenz? Ist es sinnvoll, noch 4 Monate Laserbehandlung und 6 Monate Schließmuskeltraining und Bindegewebestärken vor der 1. OP zu machen?